Geschmack, Konvention und Denken
Ich bin gerade sehr produktiv, und setzt so noch einen Text in dieses Forum:
Wie kommen eigentlich Geschmäcker zustande? D. h., wie kommt es, daß man etwas als schön, als häßlich, als elegant, als plump, als seriös, als albern oder lächerlich empfindet?
Ein Großteil solcher Beurteilungen geschieht sicher unbewußt, durch Assoziationen, deren Grundlage durch Sozialisation in Kindestagen gelegt werden. Aber Geschmäcker können sich auch in späteren Lebensjahren noch verändern. Wie geht so eine Änderung vor sich?
Und wie kommt es, daß der Geschmack einer ganzen Gesellschaft sich ändert? Wieso galten z. B. Männer mit Zöpfen im 18. Jh. als seriös (ja, ohne Zopf oder gar gezopfter Perücke galt man als nicht vollständig gekleidet), im 19. Jh. als altmodisch, im 19.-20. Jh. als weibisch und jetzt, zumindest teilweise, wieder als gesellschaftsfähig? Wieso ändern sich Moden? Irgend jemand muß doch damit anfangen, muß auf genügend gleichgesinnte Resonanz stoßen, diese Neumodischen prägen dann nach und nach das Bild auf der Straße, allmählich gewöhnen sich auch die trägeren, konservativeren Leute daran, und die neu aufwachsende Generation nimmt als normal, was ihren Eltern neumodisch und ihren Großeltern unbekannt war, evtl. vor vielen Genrationen aber auch schon mal normal war. Neue Moden brauchen also immer Protagonisten, die innerlich stark genug sind, anders als die Masse aufzutreten. Die Masse der Menschen macht sich keine Gedanken, nimmt überkommenes unhinterfragt als normal und reagiert auf neues teils ablehnend, teils zustimmend, teils gleichgültig. Das Interessante und, da wir doch den Anspruch haben, Homines sapientes (der Plural von Homo sapiens; ich hoffe, der stimmt so) zu sein, also einsichtige, verständige, kluge, ja weise Menschen, das Erschreckende ist, daß wir sehr schnell ablehnen, was wir nicht kennen und daß wir in unseren Beurteilungen sehr schnell der erstbesten Assoziation folgen, die uns aus dem Unterbewußten hochkommt. Meines Erachtens gibt es drei Ebenen, mit dem Denken umzugehen: 1. Wir denken gar nicht oder bestenfalls konstruktiv, aber nicht reflexiv. D. h. wir denken vielleicht über technische und organisatorische Funktionen nach, wollen wissen, wie man etwas macht, aber nicht darüber, warum man etwas machen soll. Spontan gefällte Urteile, die sich aus in der Sozialisation internalisiertem speisen, werden nicht weitergehend auf ihre Richtigkeit überprüft. 2. Wir üben uns ausgiebig und eingehend im reflexiven Denken, hinterfragen alles, lassen nichts selbstverständlich sein, grübeln bis zum Gehtnichtmehr über Sinn und Unsinn von allem und jedem nach. Unsere wohldurchdachten Urteile beäugen wir immer und immer wieder kritisch von allen denkbaren Perspektiven. Uns wird bewußt, daß jedes Urteil perspektive- und kontextabhängig und daher vorläufig und nur bedingt richtig ist. 3. Wir haben es gelernt, uns in tiefe Meditation zu versenken. Dabei haben wir das diskursive Denken hinter uns gelassen. Wir nehmen alles wahr, was in unserm Bewußtsein und Unterbewußtsein vor sich geht, ohne es zu beurteilen, ohne darüber nachzudenken. Wir handeln wieder spontan, so wie auf der ersten Ebene, mit dem Unterschied, daß uns die Ursachen der Assoziationen bekannt sind und daß wir nicht irgendwelchen sozialisationsbedingten Assoziationen folgen, sondern aus einer viel tieferen Quelle schöpfen, die keinen Namen mehr hat. Man nennt sie Wesensnatur, Gott, das Göttliche, Reiner Geist oder wie auch immer, aber alle diese Benennungen sind bloß hilfloses Gestammel.
Zugegebenermaßen habe ich diese dritte Ebene noch nicht erreicht, erahne sie aber manchmal und glaube einfach daran, daß es sie gibt und kenne Leute, die behaupten, sie erreicht zu haben. Mein Verstand hinterfragt das alles noch furchtbar kritisch, aber mein Gefühl und eigene Meditationserfahrung sagen mir, daß da was dran ist.
Kommen wir noch mal zur Mode zurück, einem eigentlich furchtbar unwichtigen Thema angesichts all des Leidens auf der Welt. Aber ich erlaube mir nun doch, das Thema etwas ernst zu nehmen, da sich darin doch tieferes widerspiegelt. Unsere Gesellschaft nimmt allerhand unwichtiges furchtbar ernst, z. B. wer beim Fußball gewinnt. Ich kenne solche Leute, die nehmen Fußballergebnisse so wichtig wie den Kossovokrieg oder wie die Suche nach Weisheit bzw. viel wichtiger. Wer sich für Fußball interessiert hat meinen Segen (obwohl dieser ihm herzlich egal sein wird), aber ich erachte es in etwa für so wichtig, wie meine Sammlung von Bieretiketten, eine Liebhaberei, ein Hobby, mehr nicht. Und Röcke (ach ja, darum geht es ja in diesem Forum) sind auch eine Liebhaberei, mehr sollen sie nicht sein, wenn ich auch zugeben muß, daß mich das Thema leidenschaftlich gepackt hat. Man stelle sich vor, ich trüge auf einer offiziellen Veranstaltung z. B. auf einem wissenschaftlichen Kongreß, einen Rock und würde gar im Rock zum Rednerpult gehen. Ich bin weit davon entfernt, mich das zu trauen. Die Gefahr bestünde, daß sich keiner meinen Vortrag anhören würde, ja daß ich als albern und lächerlich empfunden würde, gemäß den Beurteilungen auf der ersten Ebene, von der auch Wissenschaftler nicht frei sind. Wenn ich aber in Anzug mit Krawatte da vorne stünde, wäre alles in Ordnung, ich gälte als seriös und freute mich auf den Feierabend, um endlich dieses lästige Ding vom Hals zu kriegen. Dummerweise muß man dermaßen eingeschnürt oft auch noch essen, z. B. auf Familienfeiern, und wir haben ausgezeichnete Köchinnen und Köche in der Familie! Da weiß man dann auch, wozu Krawattenhalter gut sind, wenn man sich über die Soße beugt.
Heute ist es also so, daß ein Mann mit Krawatte vielen als seriös gilt, ein Mann im Rock als albern oder lächerlich. (Man kann übrigens Rock und Krawatte auch miteinander kombinieren.) Ich indes stehe auf dem Standpunkt, daß die Krawatte ein albernes Lätzchen und der Rock ein bequemes, angenehmes Kleidungsstück ist. Von mir aus darf Krawatten tragen, wer will, ich mag nur nicht, wenn ich dazu genötigt werde, auch eine zu tragen. Von mir aus braucht nicht jeder Mann Röcke zu tragen, aber ich will als Mann im Rock genau so akzeptiert und respektiert werden, wie ein Mann mit albernem Lätzchen, äh, mit Krawatte!
So, eine Menge Fragen und ein paar Meinungen habe ich nun kundgetan, der zweiten Ebene angemessen. Die dritte Ebene sagt mir: Vergiß das Ganze, geh im Rock, geh in der Hose, geh nackt, egal! Aber wie gesagt, soweit bin ich noch nicht. Aber was ich bisher davon erfahren habe, gibt mir den (Gleich-)mut, endlich mal offen darüber zu reden und zu schreiben, es zur Diskussion zu stellen und hinundwieder meinen lieben Mitmenschen im Rock unter die Augen zu treten, im Bewußtsein, daß ich nichts böses tue und daß man mir höchstens das Leben nehmen kann, was aber wegen eines Rockes wohl doch keiner tun wird. Die zweite Ebene sagt mir indes, daß ich auch vorsichtig sein muß, da allzuviele Mitmenschen noch völlig auf der ersten feststecken und daher gefährlich werden können. Und die dritte sagt wieder: Hab' keine Angst, tu was du für richtig hältst! Liebe, und tu was du willst!
Man kann auch Schindluder mit den Ebenen treiben, aber das ist eine andere Geschichte und soll vielleicht ein ander Mal erzählt werden.
Michael